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 Die Spionin, die ihn liebte


Die Geschichte hat mich seit mehreren Jahren immer wieder fasziniert hat: Eine Frau arbeitete für Stasi und für den BND, kam ins Gefängnis und war die Geliebte von Willy Brandt. Für mich ist wichtig zu zeigen, dass sie Opfer und Täterin zugleich war. Gerne hätte ich ihre Sicht auf ihr Leben erfahren. Ich habe jedoch Verständnis, wenn das für sie zu schmerzhaft ist.  [Hier geht es zum Artikel]


Der Tod? Kommt später!

Friedhold Ulrich in Salzgitter. Foto: Stefanie Waske (c)
Der Fall ist nicht vorgesehen im Lauf der Welt: Ein Leben nach dem Hospiz, der Endstation des Lebens. Friedhold Ulrich schaltet den Fernseher aus, legt die Gehhilfe beiseite, lässt seinen schmalen Körper auf einen der Stühle im engen Zimmer gleiten und zündet sich eine Zigarette an. „Für mich bestand keine Aussicht auf Sterben“, sagt er mit rauer, flacher Stimme. Tiefe Falten liegen über der großen Nase des 54-Jährigen, die sich trotzig im Gesicht behauptet. Der Wind drückt die Gardinen in das geöffnete Fenster. Draußen scheint grell die Sonne. Der Krebs ist weg.

*

„Ich habe schon an der Sonne geschnuppert. Ich weiß, wie es ganz oben ist und ganz unten“, sagt er. Oben - das sind die 90er Jahre: Aus eigener Kraft ein Haus gebaut für seine Familie. Ulrich steigt ins mittlere Management der Deutschen Vermögensberatung auf. Bekommt Sonderprämien, lebt nach Terminkalender. Mit dem Ende der Ehe stürzt sein Leben mit einem Mal auf den Abgrund zu.

„Während der Scheidung war die Krankheit schon da, ich habe sie nur nicht wahrhaben wollen.“ Zuerst ist es ein kurzer Schmerz. Zum Arzt geht er nicht. Ulrich denkt: „Ein bisschen Schmerzen alle zwei Wochen. Ist ja in zwanzig Minuten wieder vorbei.“ Irgendwann kommt die Diagnose: Der Krebs hat sich im Körper ausgebreitet. Nur bis in Herz und Lunge nicht. Die bittere Wahrheit will er lange nicht akzeptieren, versteht die Menschen, die sich aus Furcht vor der Krankheit zurückziehen. Auch er hat Angst - vor sich selbst. Bei schönem Wetter bleibt er in der Wohnung. „Es könnte mich ja jemand ansprechen. Bei Regen geht keiner.“ Die Familie - zerrüttet durch die Scheidung - zerbricht.

„Seit zwölf Jahren habe ich keinen Kontakt mehr zu meinen Kindern. Ich weiß nicht, was sie machen, wo sie sind. C‘est la vie.“ So ist das Leben. Er denkt über sich nach. Sieht die Welt neu: „Da habe ich mich wieder an einer Blume erfreut. Nach 30 Jahren. Ich hatte sie einfach nicht gesehen.“

Acht Jahre Krebs, 60 Mal im Krankenhaus: Ulrich lernt sich innen wie außen kennen, jeden Finger, jeden Zentimeter Haut, jedes Gefühl. „Ich weiß, wie viel Kontrastmittel ich trinken muss.“ Den Rest schüttet er ins Waschbecken. Er gewöhnt sich an die Operationen, das Krankenhaus. „Wieder mein Zimmer, mein Bett?“, fragt er. Und versucht sobald es geht, der Klinik zu entfliehen. Für Stunden, für Augenblicke. 2008 sagen die Ärzte: Jetzt kommt nur noch der Tod. Eine Nachbarin überredet ihn, sich das Hospiz in Salzgitter-Bad anzuschauen. Ulrich vergisst seine Vorurteile: Hinter dunklen Gardinen auf den Tod zu warten. Die Entscheidung fällt in zehn Minuten.

Doch was soll aus dem werden. was noch sein Leben ist? „Ich habe es verschenkt“, sagt Ulrich. Ganz bewusst. Nichts soll in einem Sack enden, sondern Menschen helfen - einer Frau und ihren beiden Kindern. Als er im Auto zum Hospiz sitzt, beginnen sie, die Möbel, die Kleidung, die geliebte Stereoanlage wegzuräumen. Die Haustür fällt ins Schloss, sein Leben teilt sich. Der Strich, wie er es nennt. Oder ein Film, der zum letzten Mal abläuft und dann in einer Metalldose verschwindet: Ulrich der Klosterschüler, Ulrich als Kraftfahrzeugmeister, als Vermögensberater. Vorbei - all das bleibt in dem kleinen Ort nahe Hildesheim zurück.

24 Quadratmeter, ein Zimmer mit Bett, Schrank und Stühlen aus Buchenholz. Hell, freundlich, friedlich -
so sieht seine neue Heimat aus. Vor dem Fenster hängen bunte Vorhänge. Ulrich packt seine Jogginghosen,
T-Shirts und Schuhe aus seiner kleinen Reisetasche, dazu die Geburtsurkunde und den gerahmten Meisterbrief. Es muss nur für zehn Tage reichen - glaubt er. Vorbei ist seine Angst, nach Wochen tot auf dem Fußboden gefunden zu werden. Zwei Monate kommt der Tod immer näher. Der Abgrund schluckt die Hoffnung, das Morphium die Schmerzen.

Das Hospiz ist eine abgeschlossene Bühne, auf der Menschen nur noch kurz auftreten. „Man wusste: Was hat die? Ach, du Schande. Fünf Tage. Vier Tage. Zehn Tage.“ Nur zwei Frauen bleiben länger. „Da ist man auch einmal einen Kaffee trinken gegangen. Ansonsten ist Hospiz Station X. Da gibt es kein Zurück mehr. Das war es dann.“

Die Monate vergehen. Ulrich stirbt nicht, sondern fasst einen Plan. „Eines verspreche ich Euch, in diesem Bett werde ich nicht sterben.“ Ein Pakt für das Leben. „Der Glaube an das eigene Ich ist es gewesen.“ Die Keimzelle für den Kampf. Die ehrenamtlichen Helfer im Hospiz geben ihm Mut, Vertrauen, Hoffnung um widerstandsfähig zu sein gegen den Tod: „Man muss sagen: Das mache ich nicht. Da spiele ich nicht mit. Nein!“ Das letzte Datum verschiebt sich Woche um Woche. Nach sieben Monaten nimmt Ulrich Abschied - vom Hospiz, nicht vom Leben. „Was mit mir passiert ist, kann keiner verstehen.“ Die Ärzte sind ratlos, denn der Krebs ist weg.

*

So gibt es seit dem 6. Oktober 2008 Friedhold Ulrich wieder. Die alte Hildesheimer Welt hingegen nicht -außer dem Vater, seinem Bruder und einem Arbeitskollegen. Die Helfer des Hospizes und ein Freund aus Krankenhaustagen, der in Salzgitter-Bad lebt, bilden sein Leben danach. Neue Kleidungsstücke hängen im Schrank, ein Schild mit der Aufschrift „Glück“ vor der Tür und der Spruch „genieße jeden Tag“ an der Wand.

Heute sagt der 54-Jährige: „Ich weiß nicht, was schlimmer ist: Mit dem Krebs gelebt zu haben oder zu wissen, dass er weg ist.“ Im Hospiz habe er mit dem Tod besser umgehen können. Im Altenheim
sieht er ihn langsam und schmerzhaft auf der Pflegestation. Die Gespräche mit den alten Menschen belasten
ihn. Sie erzählen von der Vergangenheit, von Krankheiten. „Ich will nach vorn gucken.“ Sein Traum: eine
eigene Wohnung. Pläne schmieden. Noch flieht Ulrich in die Stadt - wie früher aus dem Krankenhaus. Trinkt Kaffee, beobachtet die Menschen und denkt: „Ihr wisst gar nicht, wie schön es ist, gesund zu sein. Für Euch ist das alles normal.“ Die Skulpturen und die Rosen bemerken viele nicht, sagt er. Hintertürchen gibt es für ihn nicht mehr. Sagt jemand, er will in den Süden fliegen, fragt er bohrend: „Wo ist Süden? Erkläre mir das!“ Nicht Süden, sondern Harz oder Rom. Bequem sein, liegt ihm nicht. „Welcher ist der Edelfisch unter den Fischen? Der Lachs. Was macht der? Er schwimmt gegen den Strom.“ Die anderen Fische gehen leichter ins Netz. Der Tod soll ihn nicht fassen können. Noch nicht, denn er hat noch viel vor.

Erscheinen am 6. August 2009 in der Braunschweiger

Zeitung, Seite 3, (c) Foto und Text: Stefanie Waske